dromedar hat geschrieben:Hallo steckchen,
ich muss wirklich lächeln, nein lachen. Ich danke dir. ... Du hast mich auf jeden Fall aufgemuntert.
Es gibt nur ein Punkte, wo du Falsch liegst, ich wollte noch nie Kinder, das hat sich auch nie geändert, das kann ich mit Sicherheit sagen. An einer Familie, Haus, Hund u.s.w. hatte ich noch weniger Interesse. Heiraten wolte ich auch noch nie, finde ich viel zu spießig (ohne jemandem nahe treten zu wollen). Um so schlimmer finde ich es, das ich mich verlobt habe, nicht für mich, sondern, weil ich ihm einen gefallen damit tun wollte, ich weiß, Absurd und...ach da fallen mir keine Worte ein.
...anscheinend bin ich mit meinen 36 Jahren doch noch irgendwo hängen geblieben. Im Alltag bin ich eine sehr seriöse Persönlichkeit,
Hallo Sibel,
schön, wenn ich Dich etwas aufmuntern konnte. Ich denke, Du hast einfach noch nicht den Richtigen getroffen, der Dich versteht und akzeptiert, so wie Du bist. Glaub mir, dann geht alles ganz ganz schnell. Ich glaube auch gar nicht, daß Du das wirklich spießig findest (na gut, ein eigenes Haus und einen Hund muß wirklich nicht jeder haben
) Sondern die vorgebliche Spießigkeit Anderer ist nur eine Schutzbehauptung von Dir, um Verletzungen zu vermeiden. Das tun viele Leute, die so reden wie Du. Denn Haus, Familie, Kinder sind alles Dinge, wo man Verantwortung übernehmen muß, Sorge tragen muß. Und davor scheust Du Dich momentan.
Du schreibst, Du hast Dich mit dem Jordanier nur verlobt, um ihm einen Gefallen zu tun. Das erinnert mich an eine Episode aus Desperate Housewifes wo Bree (Die Rothaarige) sich mit einem in sie verliebten Apotheker verlobte, weil sie höflich sein und seinen Heiratsantrag nicht ablehnen wollte. Ihr Psychologe zog daraufhin erstaunt die Augenbrauen hoch und fragte: "Sie haben also aus reiner Höflichkeit Ja gesagt - in so einer wichtigen Herzensangelegenheit?" Und da war auch Bree klar, wie fremdbestimmt sie gehandelt hatte. Und ich denke, auch Du hast fremdbestimmt gehandelt, in dem Glauben, nett zu ihm sein zu müssen, in dem Glauben, bestimmten Traditionen entsprechen zu müssen, die auch in Dir verankert sind und die "dort eben so sind" noch viel stärker als in Deutschland. Das haben viele Touristinnen so geglaubt, wenn ihnen im Urlaub emotional der Boden unter ihren Füßen weggezogen wurde. Sie haben entweder ein Kleidungsstück gekauft, daß ihnen dort gefallen, in Deutschland aber absolut unpassend wirkte und dann letztendlich nie getragen wurde. Oder sie haben sich eben mit einem falschen Mann verlobt.
Dromedar hat geschrieben:Das einzige womit ich ein echtes Problem habe, auch, wenn man mir das hier nicht abnehmen mag, ist die unglaubliche Naivität, die sich durch mein Leben zieht. In allen Lebenssituattionen bin ich so Naiv, das das bestrafft werden müsste (was auch in gewisser weise passiert).
Du hast in meinen Augen davor Angst, daß jemand entdeckt, wie naiv, unbedarft und verletzlich Du damit in manchen Situationen bist und daß er Dich dann entlarvt und bloßstellt und lächerlich macht. Aber durch diese Vermeidungshaltung vermeidest Du es eben auch, neue Erfahrungen zu sammeln. Weißt Du, es gibt so viele unfähige Mütter oder Hausbesitzer, die hatten überhaupt kein Problem damit, Verantwortung zu übernehmen, obwohl sie dieser gar nicht gewachsen waren. Und die schämen sich die Hälfte von dem, wofür Du dich schämst, was später mal eintreten könnte - oder aber auch nicht, wenn Du denn Familie und Haus hättest. Und glaub mir, solche Leute, die so eine Vermeidungshaltung wie Du an den Tag legen, sind meist bessere Mütter und Verantwortungsträger als die, die sich ständig unbekümmert überschätzen und übernehmen.
Dromedar hat geschrieben:Und natürlich diese Aufopferungshaltung, die ich automatisch einnehme. Obwohl, und glaube mir, mir das völlig bewusst ist. Ich kann es nicht abstellen. Diese Muster, die ich immer wieder an mir erkenne, treiben mich in den Wahnsinn, bzw. ich schreibe, damit ich nicht durchdrehe.
Ich habe mich schon in Jordanien gesehen, wie ich ein Frauenhaus gründe u.s.w. ich bin nicht Mutter Teresa, wollte ich nie sein, kann ich auch nie sein. Ich, als einziger Mensch, in Jordanien, sorge dafür, das die Frauen mehr Rechte bekommen, das Tiere (Pferde, Esel, Katzen, Hunde) besser behandelt werden, ja, genau so was ist mir durch den Kopf gegangen, wenn ich das jetzt schreibe, ist mir das schon echt peinlich, das tut schon fast weh, ist wie fremd schämen, nur das ich es bin, uuuu da schüttelt es mich, aber vor mir selbst. ... ich habe Reituntericht genommen, habe mich über Pferde unterrichten lassen, ich wollte den Jordaniern beibringen, wie ein Europär seine Tiere hält. Klar, ich gehe nach Jordanien und bringe denen bei, das man nicht unbedingt die Peitsche benutzen muss.
Aua! Was Du da schreibst, ist Helfersyndrom in Reinkultur. Und gerade die stolzen Jordanier haben bestimmt auf eine europäische Frau mit muslimischem Hintergrund gewartet, die ihnen beibringt, wie man zivilisiert Tiere hält und Frauen ordentlich behandelt.
Wahrscheinlich wolltest Du dem Jordanier, mit dem Du Dich verlobt hast, auch etwas beibringen, stimmts? Tief im Innern weißt Du eigentlich, daß es Illusionen waren, denen Du Dich hingegeben hast.
Du fühlst Dich hier in Deutschland vielen Menschen unterlegen und glaubst, in einem Entwicklungsland wie Jordanien wärst Du den meisten Menschen überlegen und könntest dort quasi die Einäugige unter Blinden sein. Das wird aber so nicht funktionieren. Aber Du bist damit nicht die Einzige. Scharen von jugendlichen Entwicklungshelfern werden jedes Jahr von Deutschland aus in die Dritte Welt losgelassen und glauben wie Du, dort ähnliche Defizite korrigieren oder wettmachen zu können. Ich denke, wenn Du mal die Blickrichtung änderst, wirst Du sehen, daß es auch in Deutschland viele Menschen gibt, die es schlechter haben als Du, die vielleicht andere Unzulänglichkeiten haben als Du. Vielleicht willst Du auch immer den falschen Menschen gefallen, die eigentlich nicht gut sind für Dich.
Aber ich denke, Du bist schon auf dem besten Wege dahin, loszulassen und vielleicht auch Deine Ansprüche an Dich selbst in bestimmten Beziehungen herunterzuschrauben. Man will immer das gerne, was man eigentlich nicht hat. Besinne Dich doch einmal darauf, was Du hast und kannst und streiche das heraus. Ich glaube, dann würdest Du auch viel weiterkommen. Du hast geschrieben, daß Du eigentlich immer sehr seriös rüberkommst. Kann es sein, daß Du so unnahbar wirkst, daß kein Mensch auf die Idee kommt, Du könntest Probleme haben, so daß andere Menschen sich Dir gegenüber fühlen, wie Du Dich ihnen gegenüber fühlst, nämlich unterlegen? Während Menschen, die hin und wieder mal eine Schwäche zeigen und dann sogar über sich selbst lachen können, auch auf andere menschlich wirken und damit weniger perfekt und damit weniger bedrohlich für die, die sich ebenfalls nicht perfekt und eher als mangelhaft empfinden. Und wenn Du weißt, daß viele andere Menschen auch Angst haben, man könnte ihre kleinen Schwächen entdecken und ausnutzen, dann geht es Dir vielleicht schon etwas besser?
Es gibt da so einen tollen Spruch von Dale Carnegie: "Wenn Du Feinde willst, dann übertrumpfe die Menschen, willst Du Freunde, dann lasse Dich von ihnen übertrumpfen." Natürlich sollte man schon wissen, vor wem man Schwäche zeigen kann und vor wem nicht. Aber es gibt leider viel zu viele Menschen, die meinen, immer stark und souverän wirken zu müssen, die verlieren sich in ihrer Schauspielerei und gehen irgendwann emotional-innerlich elendiglich vor die Hunde oder begehen Selbstmord, weil sie es einfach nicht schaffen, zu sich selbst und ihren Fehlern und Schwächen zu stehen, weder vor sich noch vor anderen, die es eigentlich gut mit ihnen meinen.
LG
Steckchen
Die Liebe vernachlässigt diejenigen am meisten, die ihrer am meisten bedürfen.
(Madame de Rosemonde im Film: Gefährliche Liebschaften (Regie: Stephen Frears) 1988